Zehn Jah­re nach der gro­ßen Plei­te hat sich Is­lands Wirt­schaft wie­der be­rap­pelt. Eine Rei­se in den Nor­den der In­sel, wo die Men­schen wis­sen, wie das geht: schei­tern und wie­der auf­ste­hen.

Wenn Róbert Guðfinns­son se­hen will, was er er­reicht hat, fährt er mit sei­nem klei­nen Mo­tor­boot auf den Fjord hin­aus. Wäh­rend ihm die Gischt ins Ge­sicht spritzt, deu­tet der 61-Jäh­ri­ge auf die Re­stau­rants am Ha­fen, das Ho­tel mit den wei­ßen Gie­beln, das mo­der­ne Fa­brik­ge­län­de. Mein Re­stau­rant. Mein Ho­tel. Mei­ne Fa­brik. Das könn­te er jetzt sa­gen. Doch er grinst nur.

»Sig­luf­jörður war eine Geis­ter­stadt«, sagt Guðfinns­son, »ich woll­te den Men­schen hier wie­der eine Per­spek­ti­ve ge­ben.«

Mit Per­spek­ti­ven ist es so eine Sa­che in Sig­luf­jörður. Es sind von hier nur noch 40 Ki­lo­me­ter Luft­li­nie bis zum Nord­po­lar­kreis. Selbst für is­län­di­sche Ver­hält­nis­se liegt das Kaff am Ende der Welt. Man­che der 1200 Ein­woh­ner sa­gen, die ho­hen Ber­ge um­ar­men den Ort. An­de­re sa­gen, sie er­drü­cken ihn.

Be­son­ders im Win­ter, wenn es hier fast 20 Stun­den am Tag dun­kel ist und es wo­chen­lang nicht auf­hört zu schnei­en.

Róbert Guðfinns­son weiß ge­nau, was das be­deu­tet:



In den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren hat Róbert Guðfinns­son rund 35 Mil­lio­nen Euro in die Stadt in­ves­tiert. Er hat das ma­ro­de Ha­fen­ge­län­de sa­niert und zwei Re­stau­rants er­öff­net, das Ski­ge­biet mo­der­ni­siert und ei­nen Golf­platz ge­baut. Für die Ge­stal­tung sei­nes Lu­xus­ho­tels en­ga­gier­te der In­ves­tor ei­nen Film­ku­lis­sen-De­si­gner, da­mit es sich per­fekt in die Land­schaft fügt. Er hat eine Bio­tech-Fir­ma ge­grün­det und ins­ge­samt rund Hun­dert Ar­beits­plät­ze ge­schaf­fen:



Rück­blen­de: Am 29. Sep­tem­ber 2008 ver­kün­de­te der is­län­di­sche Pre­mier, dass die Glit­nir-Bank, die dritt­größ­te des Lan­des, ver­staat­licht wird.

Da­nach ging Is­land zu Bo­den wie ein Bo­xer nach ei­nem Lu­cky Punch.

Die Aus­wir­kun­gen der Leh­man-Plei­te und der in­ter­na­tio­na­len Fi­nanz­kri­se wa­ren in Is­land so un­mit­tel­bar zu spü­ren wie nir­gends sonst in Eu­ro­pa. Mil­li­ar­den­schwe­re fau­le Kre­di­te platz­ten. Rein rech­ne­risch war je­der Is­län­der mit über 250 000 Euro im Aus­land ver­schul­det. 80 Pro­zent der is­län­di­schen Un­ter­neh­men und 30 Pro­zent der Pri­vat­haus­hal­te wa­ren An­fang 2009 de fac­to in­sol­vent.

Die Men­schen ver­lo­ren qua­si über Nacht ihr Geld, ihre Häu­ser und ihre Jobs. Und vie­le ih­ren Mut.

Zehn Jah­re spä­ter hat sich Is­land zu­rück­ge­kämpft. Das Ban­ken­sys­tem gilt in­zwi­schen als sta­bil, selbst im Fuß­ball de­mons­trier­te das Land zu­letzt un­ge­ahn­te Stär­ke. Das 350 000-Ein­woh­ner-Ei­land hat sich auf das be­son­nen, was es vor der Zocker­zeit aus­mach­te: das Meer und die Men­schen. Die Fi­sche­rei ist im­mer noch ei­ner der wich­tigs­ten Wirt­schafts­zwei­ge:



Der Tou­ris­mus ver­zeich­net Re­kord­um­sät­ze. Seit dem Jahr 2010 hat sich die Zahl der Be­su­cher ver­vier­facht – dank ei­ner ein­zig­ar­ti­gen Na­tur, aber auch weil die Is­län­der ge­bo­re­ne Gast­ge­ber sind. Und weil sie nie­mals auf­ge­ben.

Sig­luf­jörður liegt fünf Au­to­stun­den von Reyk­ja­vík ent­fernt, im­mer wei­ter geht es nach Nor­den, vor­bei an Vul­kan­kra­tern und Pfer­de­kop­peln.

Hier am dunk­len Fjord, zwi­schen den moos­grü­nen Ber­gen, kann man das gro­ße is­län­di­sche Wirt­schafts­wun­der im Klei­nen be­trach­ten.

Ei­ner, den Róbert Guðfinns­son nach Sig­luf­jörður ge­lockt hat, ist Jón Garðar Stein­gríms­son:



Seit sei­nem Um­zug nach Sig­luf­jörður hat sich Stein­gríms­sons Le­ben ge­hö­rig ent­schleu­nigt. Zur Ar­beit braucht er heu­te fünf Mi­nu­ten, zu Fuß. Sei­ne drei Kin­der zie­hen ohne Auf­sicht mit ih­ren Freun­den durch die Nach­bar­schaft. Sei­ne Frau macht sich ge­ra­de als Per­so­nal­be­ra­te­rin selbst­stän­dig. Im Win­ter nutzt er die Mit­tags­pau­se auch mal zum Ski­fah­ren.

Eine fol­gen­rei­che Ent­schei­dung

Herbst 2008. Als der is­län­di­sche Pre­mier ver­kün­de­te, dass auch die an­de­ren bei­den gro­ßen Ban­ken un­ter Zwangs­ver­wal­tung ge­stellt wür­den, saß Róbert Guðfinns­son auf sei­ner Couch vor dem Fern­se­her in Pho­enix im US-Bun­des­staat Ari­zo­na. Der Un­ter­neh­mer leb­te in ei­ner Vil­la in ei­nem Golf­platz-Res­sort, sei­ne Frau lieb­te die mehr als 300 Son­nen­ta­ge im Jahr.

Als Ju­gend­li­cher träum­te Guðfinns­son da­von, Fo­to­graf zu wer­den.

Doch mit Träu­men ließ sich in Sig­luf­jörður in den Sieb­zi­ger­jah­ren kein Geld ver­die­nen.

Den ers­ten Job fand er, wie vie­le sei­ner Lands­män­ner, auf ei­nem Fisch­traw­ler. Spä­ter stu­dier­te er Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten, lei­te­te das größ­te is­län­di­sche Fi­sche­rei­un­ter­neh­men, zeich­ne­te als Vor­stand für ei­ni­ge Tau­send Be­schäf­tig­te ver­ant­wort­lich. Mit Fisch­far­men in Me­xi­ko, Chi­le, Kroa­ti­en und Ja­pan bau­te er sich ein Ver­mö­gen auf.

Als Is­land in den in­ter­na­tio­na­len Abend­nach­rich­ten auf­tauch­te, fass­te der Self­made-Mil­lio­när auf der Couch ei­nen Be­schluss:

»Ich muss mei­ner Hei­mat hel­fen.« Und in Sig­luf­jörður woll­te er da­mit an­fan­gen.


Guðfinns­son ist durch und durch Ge­schäfts­mann. Er wit­tert Chan­cen. Wenn es um neue Ge­schäf­te geht, gilt für ihn nur eine Re­gel: »Ich gebe nur Geld für et­was, das ich selbst ver­ste­he. Auch wenn ich es mir lan­ge er­klä­ren las­sen muss.«

Sein jüngs­tes In­vest­ment sind Anti-Aging-Kap­seln auf Chi­tin-Ba­sis. Die Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­tel sol­len un­ter an­de­rem ge­gen Rheu­ma hel­fen. Guðfinns­son gibt zu, dass es lan­ge ge­dau­ert habe, bis er die Ba­sis die­ses Ge­schäfts ver­stan­den habe. In­zwi­schen kann er al­ler­dings über Her­stel­lung, Ver­ar­bei­tung und ent­zün­dungs­hem­men­de Wir­kung von Chi­tin do­zie­ren, als habe er selbst Che­mie stu­diert. Der Wirk­stoff für sei­ne Kap­seln wird aus dem Chi­tin von Gar­ne­len­pan­zern ge­won­nen, ein Ab­fall­pro­dukt der Shrimp-In­dus­trie. In Sig­luf­jörður fällt der Roh­stoff ton­nen­wei­se an.

Der un­ge­brems­te Fall. Zum zwei­ten Mal

Guðfinns­son hät­te wohl nie die­sen Ort für sei­nen gro­ßen Plan ge­wählt, wenn er nicht hier ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen wäre. Mit Sen­ti­men­ta­li­tät und Hei­mat­ver­bun­den­heit hat das nur in zwei­ter Li­nie zu tun. Viel wich­ti­ger ist, dass der In­ves­tor des­halb ei­nen ent­schei­den­den Fak­tor kann­te, den ein Frem­der nie­mals ver­mu­ten wür­de. Guðfinns­son sagt:

»Ich wuss­te, die Men­schen hier ha­ben das Po­ten­zi­al dazu.«

Und das heißt vor al­lem: In Sig­luf­jörður weiß je­der, was es heißt, zu fal­len – und wie­der auf­zu­ste­hen.

Wer die Men­schen in Sig­luf­jörður nach »der Kri­se« fragt und was sie mit ih­nen und ih­rer Stadt ge­macht hat, der be­kommt statt ei­ner Ant­wort meist eine Ge­gen­fra­ge: »Wel­che Kri­se denn?« Die Stadt hat schon ein­mal er­lebt, was dem gan­zen Land 2008 wi­der­fah­ren ist. Ei­nen wirt­schaft­li­chen Hö­hen­flug – und den un­ge­brems­ten Ab­sturz:



»Auch die He­rings­kri­se vor fünf­zig Jah­ren war eine von Men­schen ge­mach­te Kri­se«, sagt Fríða Björk Gyl­fa­dót­tir, »ge­nau wie die Fi­nanz­kri­se 2008.« Wachs­tum ohne Maß.

»Wir spür­ten alle, dass das nicht gut ge­hen konn­te.«

Die Frau mit der gro­ßen Horn­bril­le und der brü­chi­gen Stim­me be­treibt das ers­te rich­ti­ge Café in Sig­luf­jörður, das zu­gleich eine klei­ne Ga­le­rie ist. Die Toi­let­te ist vom Bo­den bis zur De­cke mit Mi­ckey-Mou­se-Co­mics be­klebt und hat ei­nen be­lieb­ten Sel­fie­s­pot.

Gyl­fa­dót­tirs Pra­li­nen­krea­tio­nen sind so un­ge­wöhn­lich wie ihr Le­bens­lauf:



Durch den Tou­ris­mus, durch die neu­en Ein­woh­ner wan­delt sich auch Sig­luf­jörður.

»Es herrscht eine Art Start-up-Stim­mung«, sagt Marteinn Bryn­jól­fur Ha­ralds­son.

Und es sei­en kei­nes­wegs nur die jun­gen Leu­te, die be­reit sei­en, sich zu ver­än­dern, sagt der 34-Jäh­ri­ge, wäh­rend er sei­ne ge­gel­ten Haa­re un­ter ein Haar­netz stopft. »Alle hier ha­ben Lust, dass nun et­was Neu­es be­ginnt.«

Bier statt Ka­bel­jau und Heil­butt

Ha­ralds­son hat In­for­ma­tik stu­diert, er ge­hört wie Jón Garðar Stein­gríms­son, der Ex-Ber­li­ner, zu den Rück­keh­rern. Als Kind spiel­te er in den ver­ros­te­ten Rui­nen Sig­luf­jörðurs. Spä­ter zog er mit dem Ruck­sack in die Welt hin­aus, reis­te durch Mit­tel­ame­ri­ka.

Vor zwei­ein­halb Jah­ren hat er hier wie­der sei­ne Zel­te auf­ge­schla­gen und in ei­ner ver­las­se­nen Fisch­fa­brik eine klei­ne Braue­rei er­öff­net. Wo frü­her Ka­bel­jau und Heil­butt ver­ar­bei­tet wur­den, wird heu­te in glän­zen­den Edel­stahl­kes­seln mit is­län­di­schen Quell­was­ser nach deut­schem Rein­heits­ge­bot ge­braut. Die Ein­rich­tung stell­te jede Hips­ter-Knei­pe in den Schat­ten. »Se­gull 67« heißt Ha­ralds­sons Braue­rei, die Haus­mar­ke schmeckt herb, aber leicht,

»das Was­ser macht den Un­ter­schied«.

Als nächs­tes will er sich an Gin ver­su­chen, ku­rio­se is­län­di­sche Kräu­ter wach­sen in den Ber­gen rund um Sig­luf­jörður schließ­lich zu­hauf.

Ha­ralds­son sagt, die meis­ten Men­schen sei­en ein­fach nur stolz dar­auf, wie sich Is­land, wie sich Sig­luf­jörður, in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ent­wi­ckelt habe:




Das Wich­tigs­te aber sei jetzt, aus den Feh­lern der Ver­gan­gen­heit zu ler­nen und meh­re­re Ge­schäfts­fel­der zu be­spie­len.

»Wir dür­fen nicht mehr nur auf eine Ein­kom­mens­quel­le set­zen.«

Das habe dem Land, das habe dem Ort schon mehr als ein­mal das Ge­nick ge­kos­tet. Das heißt auch: Sig­luf­jörður darf sich nicht mehr nur auf Róbert Guðfinns­son ver­las­sen.

Der Gön­ner selbst siehst das auch so. »Eine star­ke Stadt braucht eine star­ke Mit­tel­schicht«, sagt Guðfinns­son. Er habe vie­les an­ge­scho­ben, »aber jetzt wün­sche ich mir, dass die Leu­te ihr Schick­sal selbst in die Hand neh­men.«

Ein paar Ide­en für den Ort hat der In­ves­tor aber noch. Ein Spa etwa und ei­nen Cam­ping­platz mit Ufer­pro­me­na­de. Oder ei­nen gro­ßer Aben­teu­er­spiel­platz.

Auf letz­te­ren hat ihn eine sei­ner Töch­ter ge­bracht. Sie ar­bei­te­te jah­re­lang in Lon­don und für Sie­mens in Mün­chen. Im März 2017 ist die 39-Jäh­ri­ge mit ih­rem drei­jäh­ri­gen Sohn zu­rück­ge­kehrt. In ein Is­land, das wirt­schaft­lich wie­der eine Per­spek­ti­ve hat. In die klei­ne Stadt am Ende der Welt, die das wie kei­ne an­de­re ver­kör­pert.

Es sieht ganz so aus, als wür­de Róbert Guðfinns­sons Plan für Sig­luf­jörður auf­ge­hen.


Über die Autorinnen

Alexandra Frank arbeitet seit 2014 für das Multimedia-Ressort des SPIEGEL. Die Island-Kennerin weiß, dass man sich bei der Recherche vor Ort auf alles verlassen kann, nur nicht auf das Wetter. In Siglufjörður zückte sie daher bei jedem Sonnenstrahl sofort ihre Kamera – bevor der Nebel wieder alle Motive verschluckte.
Simone Salden, seit 2006 Redakteurin beim SPIEGEL, schreibt für das Wirtschaftsressort normalerweise über die Handelsbranche. Selbstverständlich hat sie sich daher auch in Siglufjörður den einzigen lokalen Supermarkt angeschaut. Und dann entschieden, dass der in einer Geschichte über den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes besser nicht vorkommen sollte.

Mail: simone.salden@spiegel.de


Das Team:
Text: Simone Salden
Kamera, Drohne & Schnitt: Alexandra Frank
Motion Design: Lorenz Kiefer
Grafiken: Anna-Lena Kornfeld
Dokumentation: Klaus Falkenberg, Rainer Lübbert
Zusätzliches Videomaterial: Herring Era Museum, Genís
Redaktion: Markus Brauck, Jens Radü Produktion: Petra Gronau
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