Winter 2012. Natalia Broniarczyk hat einen One-Night-Stand, das Kondom reißt. Die 32-jährige Dok­to­ran­din aus War­schau ist un­ge­wollt schwan­ger und will ab­trei­ben. Doch das scheint viel schwie­riger als gedacht.

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Die Macht der Kirche

Polen hat eines der här­tes­ten Ab­trei­bungs­ge­setze Europas. Seit 25 Jahren ist es nur in Aus­nahme­fällen er­laubt, eine Schwan­ger­schaft zu beenden.

Offiziell sind Ab­trei­bungen nur in drei Fällen möglich:

1. Wenn die Gesund­heit der Frau gefährdet ist.

2. Wenn das Kind mit schweren Schäden zur Welt kommen würde.

3. Wenn die Schwan­ger­schaft das Er­gebn­is einer Ver­gewaltigung oder eines Inzests ist.

Ärzte dürfen aber auch aus Gewis­sens­grün­den ver­weigern, einen Abbruch durch­zu­füh­ren, was viele tun. Das war nicht immer so.

Chronik

Abtreibung in Polen

1956

Die natio­nale Gesetz­ge­bung wird in der kommu­nis­tischen Regie­rungs­zeit deut­lich libe­rali­siert: Frauen können aus medi­zini­schen und sozia­len Grün­den umsonst in Kran­ken­häu­sern und Privat­praxen abtreiben.

1979

Der polnische Papst Johan­nes Paul II. stärkt die ka­tho­li­sche Kirche im Land: Bei einem Besuch spricht er von Demo­krati­sie­rung. Außerdem werden Kirchen zum Treff­punkt von Dissi­den­ten und Mit­glie­dern der Soli­dar­ność-Be­we­gung. Unter Ein­fluss der Kirche wei­gern sich immer mehr Ärzte, eine Ab­trei­bung durch­zu­führen.

1993

Abtreibungen werden nun gesetz­lich stark ein­ge­schränkt. Ärzte dürfen sich schon seit 1990 aus Gewis­sens­gründen weigern, einen Schwanger­schafts­abbruch durch­zuführen.

Oktober 2016

In ganz Polen protes­tieren Zehn­tau­sende schwarz geklei­dete Frauen gegen ein im Parla­ment disku­tier­tes Abtrei­bungs­verbot. Die Regierung lässt das geplante Gesetz fallen.

Januar 2018

Im polnischen Parla­ment wird wieder über das Thema Abtrei­bung gestrit­ten. »Pro Life«-Akti­visten versuchen, ein Abtrei­bungs­ver­bot zu erreichen.

23. März 2018

Zehn­tausende Polen protes­tieren gegen ein mögliches Verbot. Wieder lässt die Regierung das geplante Gesetz fallen. Der Tag geht als »Schwarzer Freitag« in die pol­nische Geschichte ein.

Bei den Demos im März 2018 recken viele Frauen einen Klei­der­bügel in die Höhe: das Objekt, mit dem früher – und selten noch heute – ungewollte Schwan­ger­schaf­ten ver­zwei­felt beendet wurden, woran ein­zelne Frauen auch ver­blutet sind.

Seit der Wende 1989 arbei­ten Staat und Kirche eng zusam­men, der Priester ist eine mora­lische Insti­tution in Polen. Bereits seit 1994 sendet der katho­lische Radio­sender Maryja seine erz­konser­vativen Bot­schaften landesweit.

Auch in Schulen machen Abtrei­bungs­gegner schon früh Stim­mung: In manchen Lehr­an­stal­ten wird ab den 1990ern im Unter­richt der Propa­ganda-Film »Der stumme Schrei« gezeigt – produziert von »Pro Life«-Akti­visten 1984 in den USA. Der Film arbeitet laut Fach­ärzten bewusst mit irre­füh­renden, die Reali­tät stark ver­zer­renden visuellen Methoden:

150000 Frauen in Polen treiben trotz­dem jedes Jahr ab, so die Schät­zungen von NGOs. 2017 etwa gab es in Polen 1057 legale Schwan­ger­schafts­ab­brüche – und zwi­schen 80000 und 200000 illegale. Viele fahren dafür ins Aus­land. Etwa 1000 Frauen be­han­delt al­lein der pol­ni­sche Arzt Janusz Rudzinski je­des Jahr. Seit 20 Jah­ren arbei­tet er in ver­schie­de­nen deut­schen Kranken­häu­sern an der Grenze. Immer wieder muss er sei­nen Stand­ort wechseln, da die deut­schen Häuser nicht als »Ab­trei­bungs­klinik« gesehen werden wollen.

Zu Janusz Rudzinski kommen pol­nische Frauen aus allen Schichten und jeden Alters: Profes­sorinnen, Verkäu­ferinnen, Schüler­innen, Lehrer­innen, Poli­tiker­innen. Sogar die Geliebte eines Priesters wollte ihre Schwan­ger­schaft bei ihm beenden.

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Abtreibung mit Pillen

Immer populärer ist in Polen die Ab­trei­bung mit Medi­ka­menten. Es ist der güns­tigste und schnellste Weg. Die Medi­ka­mente aller­dings sind offi­ziell im Land nicht zu bekom­men. Frauen machen sich zwar nicht straf­bar, wenn sie ab­trei­ben. Denen, die ihnen dabei helfen, die also die Medi­kamente ver­kaufen, droht aber eine straf­recht­liche Ver­folgung. Die Tablet­ten bestel­len die Frauen im Aus­land. Immer wieder werden die Sen­dungen vom Zoll einbehalten.

Die Doktorandin Natalia Broniarczyk sucht weiter nach Hilfe. Bei der Fami­lien­bera­tung hängt an einer Pinnw­and ein Zettel: »Justyna, Frauen im Netz«, da­runter eine Tele­fon­nummer. Zwei Tage später hält sie die Ab­trei­bungs­pillen in der Hand.

Justyna Wydrzyńska (44) hat Natalia Broniarczyk bei ihrer Ab­trei­bung be­gleitet. Sie führt einen geschlos­senen Chat­room für Frauen, die ab­trei­ben wollen, »Frauen im Netz«. Außerdem eine Hot­line, wo sie oder Kol­legin­nen rund um die Uhr erreich­bar sind.

2006 wollte sie selbst ab­trei­ben. Sie hatte be­reits drei Kinder, ihre Ehe stand vor dem Aus. Damals fand sie nir­gends In­for­matio­nen zur Do­sie­rung der Medi­kamente und kei­nen ver­trauens­wür­digen Her­stel­ler. Zwei Mal kaufte sie bei du­bio­sen Händ­lern Pillen, die nicht wirk­ten. Erst beim dritten Mal klappte es.

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Das Forum im Untergrund

Wydrzyńska beschloss, einen Raum zu schaf­fen, wo Frauen sich in diesem schwie­rigen Moment unter­stützen können. Mit einer Bekann­ten, die sie auf der Suche nach Ab­trei­bungs­pil­len im Inter­net kennen­ge­lernt hatte, gründete sie den Chatroom.

Kaum war der Chat­room online, meldeten sich Hun­derte bei Justyna Wydrzyńska und ihren Kol­legin­nen. An manchen Tagen rufen noch heute sieben Frauen auf ihrer Hot­line an, die meisten an Feiertagen.

Seit einein­halb Jahren tourt Natalia Broniarczyk an der Seite von Justyna Wydrzyńska durch Polen. Gemein­sam mit der Juris­tin Karolina Więckiewicz erklären sie in Work­shops, wie man mit Medi­ka­menten ab­treibt. Die drei sind in Polen bekannt als »Abortion Dream Team«.

Vor einem Jahr waren die drei auf dem Cover der »Mysokie Obcasy«, der wöchent­lichen Beilage der Tages­zeitung »Gazeta Wyborcza« zu sehen. Sie gehört zu den wenigen links­libe­ralen Medien in Polen. Auf ihren T-Shirts stand: »Abtrei­bung ist ok«. Im Innen­teil erzäh­len sie von ihren eigenen Erfah­rungen. Es war das erste öffent­liche Coming Out dieser Art in Polen.

Seit die drei Frauen sich so offen­siv in die Öffent­lich­keit bege­ben, stehen sie noch mehr in der Schuss­linie der Ab­trei­bungs­gegner. Auch der Chat­room von Justyna Wydrzyńska war in Gefahr. »Pro Life«-Akti­visten schmug­gelten sich in das Forum, suchten Hin­weise darauf, dass Ab­trei­bungs­medi­ka­mente weiter­gereicht werden. Der Betreiber des Servers, auf dem der Chat­room zuerst regi­striert war, drohte die Platt­form wegen der An­schul­di­gungen zu schließen.

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Auf der Straße für die Selbstbestimmung

Justyna Wydrzyńska wurde von der Poli­zei vorge­laden. Die Frauen vom »Abortion Dream Team« ver­zeich­nen aber auch Erfolge. Seit sie durch das Land reisen und über Ab­trei­bungen auf­klären, suchen unge­wollt Schwan­gere früher bei ihnen Hilfe. Zuvor waren die meis­ten Frauen in ihrer 9. bis 12. Schwan­ger­schafts­woche. Mitt­ler­weile kommt der Groß­teil schon in der 5. bis 7. Woche zu ihnen. Doch der Druck von Staat und Kirche ist nach wie vor stark.

Die drei Frauen, mitt­ler­weile gute Freun­dinnen, or­gani­sie­ren regel­mäßig Demos, zu denen Tau­sende kommen. Zum Beispiel zum Inter­natio­nalen Tag für die Ent­krimi­nali­sierung des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs am 28. Sep­tem­ber. Nicht nur Polin­nen und Polen kommen zu den Aktionen.

Regelmäßige Gäste sind Ab­trei­bungs­akti­visten aus Irland. Dort wurde im Mai 2018 in einem Refe­rendum das strikte Abtrei­bungs­verbot gekippt. Fast zwei Drittel stimmten für das Recht der Frau, sich gegen eine Schwan­ger­schaft zu ent­schei­den. In Polen haben aller­dings auch die Gegner noch immer großen Zulauf. Die Regie­rung führte ein Kin­der­geld ein, das beson­ders kinder­reiche Familien ab dem zweiten Kind mit 116 Euro pro Monat belohnt. Die Fronten bleiben hart.

Team

Text Veronica Frenzel

Videos, Fotos, Schnitt Agata Szymanska-Medina

Gestaltung Lorenz Kiefer, Cornelia Pfauter

Programmierung Lorenz Kiefer

Dokumentation Walter Lehmann

Schlussredaktion Katrin Zabel

Redaktion, Schnitt Marco Kasang

Zusätzliche Fotos und Videos: VIDEO-KOD, ANDREAS BASTIAN / CARO, ZBYSZKO SIEMASZKO/FORUM / SZ PHOTO, EASTBLOCKWORLD.COM, TOMASZ GZELL / PICTURE ALLIANCE, ADAM CIERESZKO / DPA, ROBERT JAWORSKI / FORUM, GRZEGORZ JAKUBOWSKI / FORUM, GETTY IMAGES (2), ALIK KEPLICZ / PICTURE ALLIANCE, FORUM / SZ PHOTO (2), WOJTEK RADWANSKI / AFP, SIPA PRESS / ACTION PRESS, RADIO MARYJA

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